Merkmale: subjektive Einschätzung und Wahrnehmung

“Eine Kri­se ist die sub­jek­ti­ve Ein­schät­zung eines pro­ble­ma­ti­schen Zustands.” (Bae­ris­wyl, 2018, S. 17)

“Das ist eine Kri­se” ist eine ver­ba­le Äus­se­rung einer sub­jek­ti­ven Ein­schät­zung (Deu­tung) eines als pro­ble­ma­tisch wahr­ge­nom­me­nen Zustands. So “liegt die Deu­tungs­ho­heit über das, was eine Kri­se ist und wie man mit ihr umgeht […] fast immer beim eige­nen Betrach­ter.” (Thies­sen, 2014, S. 10)

So kann das, was der eine als Kri­se beur­teilt, von einem ande­ren als unpro­ble­ma­ti­sche Stö­rung und von einer drit­ten Per­son als eine Kata­stro­phe empfunden/gedeutet wer­den. So könn­te man “Kri­se” auch als das bezeich­nen, was von einer Per­son oder Grup­pe als sol­che wahr­ge­nom­men, gedeu­tet und kom­mu­ni­ziert wird. “Kri­sen kön­nen des­halb auch als sozia­le Kon­struk­ti­on ver­stan­den wer­den.” (Schwarz & Löf­fel­holz, 2019, S. 3) “Inso­fern ist die Iden­ti­fi­ka­ti­on einer kri­sen­haf­ten Situa­ti­on Ergeb­nis von indi­vi­du­el­len oder kol­lek­ti­ven Wahr­neh­mungs­pro­zes­sen.” (Staeh­le et al., 1999, S. 903)

Folg­lich ist die Bezeich­nung eines Zustands als Kri­se abhän­gig von der per­sön­li­chen Erfah­run­gen, dem Wis­sen, den Erfah­run­gen und Wert­vor­stel­lun­gen (Prä­dis­po­si­tio­nen). Die­se ste­hen in wech­sel­sei­ti­ger Bezie­hung zu den Wert­vor­stel­lun­gen und dem Welt­bild des sozia­len Umfelds: “Ob Situa­tio­nen als Kri­sen ein­ge­stuft wer­den, hängt also von den Wer­ten und Zie­len der jewei­li­gen Beob­ach­ter ab und kann je nach System­zu­ge­hö­rig­keit vari­ie­ren.” (Schwarz & Löf­fel­holz, 2019, S. 3)

So kann ein Wer­te­wan­del in der Gesell­schaft zu einer Ver­än­de­rung des Kri­sen­emp­fin­dens füh­ren (z. B. Gesund­heits­be­wusst­sein — Rau­chen). Dabei spie­len die Medi­en im Infor­ma­ti­ons­zeit­al­ter eine zen­tra­le Rol­le. So ist heu­te weni­ger das Urteil des Unter­neh­mens aus­schlag­ge­bend, was eine Kri­se ist, son­dern die Deu­tung und Dar­stel­lung in den Medi­en: “Zudem sei dar­auf hin­ge­wie­sen, dass Kri­sen oft gar nicht vom betrof­fe­nen Unter­neh­men defi­niert wer­den, son­dern von der Öffent­lich­keit und den Medi­en.” (Schmid, 2014, S. 284) So beein­flusst die kon­ti­nu­ier­li­che Bericht­erstat­tung über Skan­da­le, Dra­men und ande­re Miss­stän­de das Kri­sen­emp­fin­den der Öffent­lich­keit. Vie­les, was frü­her als Kri­se emp­fun­den wur­de, ist heu­te Nor­ma­li­tät, — und umge­kehrt: “Eine sol­che Über­flu­tung mit meist nega­ti­ven Schlag­zei­len und Berich­ten über schein­ba­re und tat­säch­li­che Kri­sen hat zu einem höchst pro­ble­ma­ti­schen Gewöh­nungs­ef­fekt in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung geführt, der tat­säch­li­chen Kri­sen nicht mehr die gebüh­ren­de Auf­merk­sam­keit zu kom­men lässt.” (Kry­stek, 2014, S. 32) 

Die Gewöh­nung an eine Kri­se hat nicht nur zur Fol­ge, dass ein ursprüng­lich als Kri­se wahr­ge­nom­me­ner Zustand als Nor­mal­zu­stand wahr­ge­nom­men wird, son­dern beein­flusst auch Denk­mu­ster und Wert­hal­tun­gen. Dies kann man im Angriffs­krieg gegen die Ukrai­ne beob­ach­ten, in dem die Men­schen offen­sicht­lich mora­li­sche und ethisch-sozia­le Wer­te ver­lo­ren haben: Das Töten ist zum All­tag geworden.

Nicht zuletzt hängt das sub­jek­ti­ve Kri­sen­emp­fin­den vom Zeit­punkt vom situa­ti­ven Kon­text und der per­sön­li­chen Erfah­rung mit Kri­sen ab. Men­schen, die bereits bereits ein­mal mit einer Kri­se kon­fron­tiert wor­den sind, haben ein ande­res Kri­sen­be­wusst­sein, und je gegen­wär­ti­ger und näher eine Kri­se ist, desto bewuss­ter nimmt man sie als sol­che wahr. Das­sel­be gilt für die Ein­schät­zung von sich abzeich­nen­den oder pro­gno­sti­zier­ten Kri­sen. Ein typi­sches Bei­spiel (“das kol­lek­ti­ve Gedächt­nis ver­gisst schnell!”) ist das Emp­fin­den der Bevöl­ke­rung gegen­über einem mög­li­chen Aus­bruch des Vul­kans Vesuv.

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